Es war eher Zufall, dass ich 2010 mit meinem ersten Smartphone auf der Suche nach einer Notiz-App über Evernote gestolpert bin. Evernote wollte dabei immer schon mehr sein, als eine bloße Notiz-App. Zum einen gab es Sateliten-Apps (Evernote Food und Hello) und „ergänzende“ reale Produkte wie Rucksäcke, Trinkflaschen oder sogar Socken im Evernote Market. Zum anderen wurde mit der App ein Lebensstil beworben. Statt profanen Einkaufszetteln sollte man sein ganzes Leben darin abbilden. Jeder kreative Gedanke, jede wichtige E-Mail, jedes elektronische Dokument sollte darin abgelegt werden. Menschen, die konsequent mit Evernote arbeiten scheinen einen Vorteil zu haben. Sie sind strukturiert, zielorientiert und erfolgreicher. Mir gefiel dieser Gedanke und ich tauchte wahnhaft in Evernote ein.
Die erste Liebe: Mehr Keywords als Notizen
Also legte ich ab, was sich ablegen ließ. Schnell habe ich die Grenzen der kostenlosen Basisversion gesprengt und bin zu Premium gewechselt. Notizen und deren systematische Ablage hatten es mir angetan. Ich las jeden Artikel, testete jede empfohlene Struktur. Hatte ich zu Anfang z.B. 10 Notizbücher (Ideen, Rechnungen, usw.), empfahl mir dann ein Artikel mich auf die Inbox und ein Archiv zu beschränken. Also verbrachte ich einen halben Sonntag damit, alle Notizbücher in das Archiv aufzulösen. Nach kurzer Zeit hatte ich mehr Keywords als Notizen und verbrachte mehr Zeit damit an der Strukturierung der Notizen als mit den Notizen selbst zu arbeiten. Die erste Lektion: Eine Notiz-App soll dein Leben leichter machen. Zwar bedarf es zur optimalen Nutzung einer gewissen Struktur, diese soll aber Arbeit sparen und dir keine Zeit rauben.
Auf der Suche nach Erleichterung bin ich mit meinen Notizen in die Google-Welt umgezogen. Größere Notizen legte ich als Textdokument in Google Drive an, kleinere Notizen in Google Keep. Nun gibt es in Drive leider keine Labels wie in GMail oder Keep gibt. Folglich konnte ich meine größeren Notizen nur in Ordner sortieren. Der Funktionsumfang von Google Keep war mir gleichzeitig zu Beginn zu gering zur alleinigen Nutzung (Keywords haben anfangs komplett gefehlt). Die zweite Lektion: Notiz-Apps benötigen gute Strukturierungsmöglichkeiten innerhalb der Notiz und ohne (echte) Tags geht es sowieso nicht.
Die zweite Liebe: Zusammenarbeiten mit Evernote
Zufällig lese ich, dass Evernote an einem neuen, reduziertn, Design arbeitet. Das soll helfen sich aufs Wesentliche zu konzentrieren. Pünktlich zur Eröffnung unseres eigenen Mikro-Fitness-Studios beschließe ich die Rückkehr zu Evernote. Also werden ein paar geteilte Notizbücher angelegt und der neue Work Chat getestet. Zu dieser Zeit war die Funktion, über Notizen zu Chatten, neu und Evernote hat sie stolz auf den Präsentierteller gestellt. Zu unrecht, denn die Funktion war halbgar. Eine Art Verlegenheitslösung, dass man Notizen nicht zeitgleich editieren konnte.
Der Artikel “Evernote, the First Dead Unicorn” (Link) ließ den Riss des Work-Chats weiter wachsen. Die dritte Lektion: Eine Notiz-App, die für dich selbst funktioniert, funktioniert noch lange nicht im Team.
Es folgen kurzweilige Phase in OneNote und erneut in der Google Cloud. Da Evernote totgesagt ist, ruht meine Hoffnung darin, dass Google oder Microsoft den Funktionsumfang von Evernote imitieren (oder es aufkaufen).
Die dritte Liebe: Todoist vermittelt kurzweilig
Mittlerweile ist mir das hin und her mit Evernote selbst peinlich. Nun höre ich von TaskClone, einem Dienst der Check-Boxen in (Evernote-)Notizen erkennt und Todoist-Aufgaben daraus macht. Da meine Liebe zu Todoist stets innig und bedingungslos war, kehre ich erneut zu Evernote zurück. Ich vermisse die Funktionen von Evernote und das euphorische Gefühl der ersten Tage. Gleichzeitige hasse ich die Firma hinter Evernote, für den Verfall den sie zugelassen haben. Es ist so, als gäbe man der Jugendliebe die alleinige Schuld an der damaligen Trennung und verachtet sie, aufgrund ihres aktuellen Partners. Leider ist der Verfall von Evernote unübersehbar. Es fehlt an neuen Features und auch viele Bugs werden über Monate hinweg nicht angegangen. Lohnt es sich noch Notizen anzulegen, wenn der Dienst bald komplett eingestellt wird? Vierte Lektion: Notiz-Apps benötigen Beständigkeit. Wer sein Leben damit strukturieren will, braucht die Vision, dass es zumindest theoretisch ein Leben lang halten könnte.
Dann lese ich einen Artikel darüber, dass man in Evernote ja auch nicht primär mit Keywords arbeiten solle, weil die nicht auf allen Plattformen gleich gut funktionieren. Mist! Hätte ich diese Best Practice damals gewusst, wäre es nie zur Trennung gekommen. Doch jetzt scheint ja auch alles egal. Ist Evernote schon tot?
Einmal will ich es noch wissen…
Dann, Ende 2018, geht durch die sozialen Medien, dass Evernote einen neuen CEO bekommt (Link). Er verspricht eine Rückkehr zu den Grundlagen der App. Make Evernote great again. Das ist die Vision für das Produkt, auf die ich nicht mehr zu hoffen gewagt habe. Die ersten echten Verbesserungen seit Jahren folgen, wie z.B. die überarbeitete Suchfunktion.
Ein letztes Mal kehre ich zurück. Ich kaufe den Premium-Service und lege sinnvolle Notizen an (statt alles auf Verdacht da rein zu knüppeln). Zwischen Keywords und Notizbüchern sorge ich für ein Gleichgewicht. Nun, im April 2020 hält diese Liebe wieder fast ein Jahr. In wenigen Wochen steht die Verlängerung des Premium-Abos an. Und ich muss sagen: “Evernote, ich hasse dich fast nicht mehr, bitte verlass’ mich nicht”.
Was ist nun die eigentliche Lektion, die ich gelernt habe? Wer eine Notiz-App über profane Einkaufszettel hinaus verwenden will, der muss mit Leidenschaft an die Sache heran gehen. Es geht auch nicht um nüchterne Notizen, darum keine Telefonnummern mehr zu vergessen. Es geht darum den Ideen um dich herum einen Lebensraum zu geben in dem sie sich zu tollen Projekten und Produkten weiterentwickeln können. In diese Beziehung musst du selbst einzahlen und dich darauf einlassen. Ach ja, und Keywords brauchst du auch!